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Sonntag, 12. Juni 2011

Die Euphorie der Dilettanten

Es gab bereits bei Beginn der Entwicklung zur Großindustrie den Typus von Experten, dessen ganzer Berufsstolz darin bestand, "einen öffentlichen Druck zur Durchsetzung höchster Sicherheitsvorkehrungen zu erzeugen, gegen die Shareholder, die Großaktionäre der Eisenbahngesellschaften, der Spielbälle der wildesten Börsenspekulationen des 19. Jahrhunderts", schreibt Joachim Radkau (bis zu seiner Emeritierung 2009 Professor für Technikgeschichte an der Universität Bielefeld) im Infoportal für Ingenieure, den VDI-Nachrichten.

Experten
Ingenieure haben sich ihren weltweit guten Ruf durch ihr handwerkliches Geschick, durch ihre Ingenieurkunst und durch ihre Fähigkeit zur Reflexion über die Technik erarbeitet. Dieser Typus des Experten, der Flugzeuge oder Autos selbst bauen konnte und über ein umfassenden Wissen verfügte, ist heute fast vollständig verschwunden. Heute konstruieren Ingenieure in der Automobilindustrie z.B. PKW-Aschenbecher am PC, werden von Großfirmen stundenweise an die Industrie verliehen, müssen zusehen, wie Aufträge an das Ausland vergeben werden und verlieren mit ihrer Identität auch die Fähigkeit zur Selbstkritik.

Lobbyisten – Die neuen „Experten“

Kompetente Ingenieure, Experten, werden immer versuchen, sich vor allem durch ihren verantwortungsbewussten Umgang mit dem Risiko von Dilettanten zu unterscheiden. Aber es hat ein anderer Typus von Experten durchgesetzt: Der Lobbyist. Es hätte im Prinzip jeder andere Industriezweig sein können, die Lebensmittel- oder die Chemieindustrie, auf dem sich der Lobbyismus hätte in Szene setzen können, aber kein anderes Thema war für Lobbyisten so erfolgsversprechend und ertragreich wie die Energiewirtschaft.

Die Lobbyisten der Atomkraft-Befürworter haben dafür gesorgt, dass jahrzehntelang die Gewinnspannen der Energieriesen sehr hoch sein konnten. Dies war nur möglich, weil notwendige Investitionen in die Forschung und Entwicklung, wie etwa in die Erforschung der Transmutation zur Lösung des Atommüllproblems, zurück gehalten wurden. Zu Gunsten hoher Gewinnsteigerungen in der Energiewirtschaft wurde die Risikoreflexion durch Experten zurückgedrängt. Diese Lücke bot sich für Laien an, die das Thema berechtigterweise aufgriffen. Warnungen, die von Beginn der Industrialisierung der Kernenergie aus den eigenen Reihen der Ingenieure kamen, habe man später nur noch in der Anti-AKW-Literatur gefunden, sagt Radkau. Ein gutes Beispiel für das zunehmende Schweigen der erfahrenen und sicherheitsbewussten Ingenieure sind die politischen Entscheidungen im Zusammenhang mit dem von Rudolf Schulten erfundenen Kugelhaufen-Hochtemperaturreaktor.

Inzwischen hat sich jedoch die Anti-Atomkraftbewegung gewandelt und einen äußerst effektiven Lobbyismus zu Gunsten insbesondere der Windkraft- und Solarenergie entwickelt; sie füllt schon längst nicht mehr nur die Lücke aus, die durch fehlende Selbstkritik, Transparenz und Weiterentwicklung der vier Konzernriesen und der fehlenden staatlichen Unterstützung der Universitäten entstanden ist, sondern betreibt selbst aktiv Lobbyismus – zum eigenen, aber auch zum Vorteil der Energiekonzerne. Die alten Großkonzerne sitzen auch bei der erneuerbaren Energie wieder an den Hebeln der Macht, kurzfristig aufgemischt durch ein paar vorwärtsdrängende mittelständische Unternehmen. Von deren Fachwissen werden die Großkonzerne in Zukunft durch deren Eingliederung in die „Wertschöpfungskette“ profitieren können. Dies liegt in der Logik des Anspruchs auf eine weltweite „Vorreiterrolle“ Deutschlands in Fragen der erneuerbaren Energie begründet, der ohne die Großkonzerne nicht zu realisieren ist. Ob diese Vorreiterrolle tatsächlich erreicht werden kann, ist zweitrangig, aber PR-wirksam. Die Parole stärkt das Wir-Gefühl und lähmt den Widerspruch. Denn realistisch betrachtet wissen alle, die von einer Vorreiterrolle träumen, dass sie weder China noch die USA einholen können, und dass jedes Land Windkrafträder bauen kann, weil die technologischen Anforderungen sich nicht auf höchster Ebene bewegen. Aber darum geht es auch gar nicht.

Der Führungsanspruch

Es geht bei der erneuerbaren Energie auch nicht um Fragen des Umweltschutzes oder der Sicherheit im Vergleich zur Kernenergie, sondern um die Frage eines gewaltigen wirtschaftlichen Wachstumsschubs ausschließlich zum eigenen, nationalen Vorteil. „Mit dem Ausstieg übernimmt Deutschland nicht nur klimapolitisch, sondern auch industriepolitisch die Führung in Europa. Wir müssen nun zeigen, dass wir als Alternative zur Atomindustrie neue Leitindustrien aufbauen können. Es geht darum, ein Wirtschaftssystem zu schaffen, das nicht nur kurzfristig Gewinne macht, sondern das auf Dauer gut aufgestellt und mit unseren Lebensgrundlagen vereinbar ist. Der Anreiz, dahin zu kommen, wird mit der Abschaltung der Atomkraftwerke gewaltig wachsen... Weil nun endlich der Druck entsteht, der notwendig ist, damit sich grüne Produktlinien in der ganzen Breite durchsetzen. Verkehrssysteme, Anlagenbau, Dämmstoffe, energieeffiziente Technologien, Solartechnik, Antriebssysteme – nichts wird auf Dauer so bleiben, wie es ist. Das grüne Jahrhundertprojekt vom ökologischen Umbau der Wirtschaft kann jetzt in Angriff genommen werden.“ Dies sagte Winfried Kretschmann, Grünen-Politiker und Baden-Württembergs Ministerpräsident im Interview mit dem Tagesspiegel, 12.06.2011. Und er ergänzte: „Dass der Ausstieg nun auf der Basis eines breiten gesellschaftlichen Konsenses vonstattengeht, ist für dieses Projekt von zentraler Bedeutung.“

Der Schwindel mit der erneuerbaren Energie

Die Atomkraftgegner stützen sich u.a. auf eine Studie des IPCC (Intergovernmental Panel on Climate Change), die am 09.05.2011 veröffentlicht wurde. Das IPCC geht davon aus, dass 80 Prozent des Energiebedarfs 2050 durch erneuerbare Energien abgedeckt werden können, verschweigt aber, dass dies nur möglich ist, wenn die große Mehrheit der Menschen innerhalb einer Generation von der Erde verschwindet oder bettelarm dahin vegitiert. Lewis Page und andere haben nachgewiesen, dass die erneuerbaren Energien 2050 höchstens zu 20 Prozent zur weltweiten Energieversorgung beitragen werden.

Die kritische Distanz wird jetzt besonders von den Grünen als Bedenkenträgermentalität diffamiert, Aktionismus als Stärke hochgejubelt und die Sicherheit dem Schnelligkeitswahn geopfert. Dieser Wahn, der „Geist der Rennplätze“, nicht die Vernunft der Ingenieure, trug 1912 Schuld an der Katastrophe der Titatanic. Aber es geht auch eine Nummer größer: Die Bundesrepublik Deutschland hat sich mit dem Atomausstieg in das größte energie- und damit industriepolitische Abenteuer in seiner Geschichte gestürzt. Der Atomausstieg ist von Hektik und Parteipolitik geprägt. Heute könne man schon feststellen, „dass es – entgegen den Beteuerungen einer ganz großen, parteienübergreifenden Koalition – wenig mit Vernunft, Nachhaltigkeit und geordnetem Verfahren zu tun gehabt hat. Dafür aber viel mit Stimmung, Hektik, nicht ökologischer, sondern parteipolitischer Konkurrenzangst“, schreibt die Welt.

Die Aussichten

Was gestern in Bezug auf die Titanic galt, gilt heute für den politisch motivierten Ausstieg aus der Kernenergie. Mit Volldampf in den Untergang.
Der Zynismus, den man häufig in Kommentaren im Internet finden kann, muss nicht verwundern: „ ...Atomausstieg könnte EU in eine tiefe Krise stürzen...* Na hoffentlich! Je eher, desto besser!“ Angeblich wollen 52 Prozent der Deutschen zurzeit den Atomausstieg, behaupten Meinungsforscher, aber die Deutschen Bürger haben nicht darüber abgestimmt. Seit wann bestimmen Meinungsumfragen die Politik? Zwei Drittel der Deutschen lehnen laut Meinungsumfragen die Beteiligung am Krieg in Afghanistan ab – und schert sich die Regierung etwa darum?

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